Interview mit Katja Brand

Sidespin hat sich mit Katja Brand, Präsidentin und Verantwortliche für die Aus- und Weiterbildung ISR/OSR/SR, getroffen. In diesem Interview berichtet sie sehr ausführlich über ihre 42-jährige Erfahrung im Schiedsrichterwesen.

 

Text: Raouf Morsi / Fotos: ETTC & WTTC

Hallo Katja! Bevor wir das Hauptthema diskutieren, könntest du dich bitte mit deinem Hintergrund vorstellen (Geschichte im Tischtennis, wie lange schon, welche Vereine, historische Momente, etc.)

Mit meinem Alter (71) und der Vorgeschichte in unserem Sport gehöre ich wohl bald zu den « Dinosauriern » des Tischtennis 😊! Meine Liebe zum Tischtennis hat eigentlich rein zufällig begonnen: im Keller meines Arbeitsplatzes (Zollverwaltung in Bern) befand sich ein Spieltisch und – zusammen mit 2 Kolleginnen – habe ich dort meine ersten Bälle gespielt. Bald darauf habe ich in der Firmensportmannschaft mitgespielt. Da mir dies irgendwann nicht mehr reichte, habe ich mich nach einem Club umgeschaut und bin ganz in der Nähe meines Wohnorts fündig geworden. Meine Wahl fiel auf den TTC-Eisenbahner, wo ich schon bald eine Lizenz löste. In der Folge habe ich erst in der Damenmannschaft und später auch in einer Herrenmannschaft mitgewirkt. Es folgten Jahre, wo ich unseren Ball ziemlich intensiv über die Platte schlug – zwei bis drei Trainings pro Woche, Turniere an Wochenenden und regelmässige Mannschaftsspiele. Und doch: an Ambitionen fehlte es mir meistens, denn für mich war Tischtennis in erster Linie Spass und im Weiteren eine wunderschöne Gelegenheit, meinen Bewegungsdrang zu befriedigen und soziale Kontakte zu pflegen.

1978 schnupperte ich dann zum ersten Mal internationale Luft – nicht als Spielerin, sondern als Teilnehmerin der MTTV-Delegation, die unsere Schülermeister and die Europameisterschaften nach Duisburg begleitete. Es war Faszination pur, den besten Spielern Deutschlands, Ungarns, Schwedens, Frankreichs usw. live zuzuschauen. Als dann im Jahre 1980 die Europameisterschaften in Bern stattfanden, war es klar, dass ich in irgendeiner Funktion daran teilnehmen wollte.

Magos Judit – J. Hammersley (ETTC 1978 Duisburg) final

Als ich davon hörte, dass Personen für die Betreuung der ausländischen Delegationen gesucht wurden, meldete ich mich und kümmerte mich dann um die Spieler aus Jersey. Die Erfahrungen während der EM 80 beflügelten mich zwar sehr, doch schon drei Monate später wurden meine Pläne durch extreme Rückenprobleme und einen 5½-wöchigen Spitalaufenthalt durchkreuzt – ich musste den aktiven Sport aufgeben. Im gleichen Jahr entschloss ich mich dann, von der Spielerin zur Schiedsrichterin zu wechseln.

1981 bestand ich die nationale SR-Prüfung mit dem Ziel, möglichst bald das internationale Niveau anzustreben. 1984 stand dann auch dieser Schritt an – ich bestand diese Prüfung rund einen Monat vor der Geburt meiner Tochter. Als junge Mutter mit all den damit verbundenen Pflichten musste ich dann natürlich meine internationalen Einsätze während einiger Zeit aufschieben. In den Neunziger-Jahren war es dann soweit, dass ich meine internationale «Karriere» starten konnte.

Bis zum heutigen Zeitpunkt habe ich in verschiedenen Funktionen an weit über 100 internationalen Turnieren, Meisterschaften usw. auf allen Kontinenten (ausser Australien) teilgenommen. Weitere Stationen in meiner Karriere waren:

1999 – nationale OSR-Prüfung; 2004 – Blue-Badge Status erreicht; 2007 – Wahl ins Rules Committee ITTF; 2009 – Ausbildung zur zertifizierten Schlägerkontrolleurin ITTF; 2011 – bestandene Prüfung zum internationalen OSR; in der Saison 2012/13 übernahm ich die Präsidentschaft in der OSR-/SR-Kommission STT; seit 2013 nationale OSR-/SR-Kurse in verschiedenen Ländern – im Auftrag des Development Programm ITTF; 2013 Beginn als «Evaluator ITTF» für Blue-Badge SR und seit 2016 Expertin für Kurse/Prüfungen für angehende Blue-Badge SR ITTF.

Gab es auch Höhepunkte, schwierige Momente und Enttäuschungen in deiner Laufbahn?

  • Höhepunkte gibt es viele in einer so langen Laufbahn – einige Finalspiele an internationalen Turnieren, Meisterschaften, Welttitelturnieren usw. Als absoluten Höhepunkt sehe ich aber das Viertelfinalspiel an der WM 2003 in Paris, wo der ehemalige Weltmeister (Wang Liqin CHN) gegen den neuen Weltmeister (Werner Schlager AUT) kämpfte und verlor; ein einzelner Tisch in der grossen Halle von Paris-Bercy mit 13’000 Zuschauern vor Ort. Nach einem extrem spannenden und bejubelten Spiel schaffte Schlager das schier Unmögliche!
  • Auch schwierige Situationen gab es viele – nicht alle Spieler*innen haben einen umgänglichen Charakter, was oft zu kritischen Situationen führt, wo von Schiedsrichtern eine hohe Professionalität gefordert ist… doch da möchte ich nicht ins Detail gehen. Ein Einsatz hat sich aber als sehr schwierig in mein Gedächtnis eingebrannt: 2001 – 9/11 – hatte ich einen Einsatz an einem Länderspiel in Österreich. Vor dem Spiel sah ich noch im Fernseher den zweiten Turm einstürzen und musste danach während fast vier Stunden diese Bilder ausblenden und mich voll auf den kleinen Ball konzentrieren, während die Welt den Atem anhielt und der Fokus auf die Geschehnisse in New York gerichtet war.
  • Es gab ebenfalls Enttäuschungen: 2004 war ich als Ersatz-SR für die Olympischen Spiele in Athen nominiert, konnte aber nicht daran teilnehmen. Ich ging davon aus, dass es vier Jahre später klappen würde; für die Spiele in Peking wurde ich dann von der ITTF nominiert, doch die ETTU hat mich durch eine von ITTF nicht-nominierte Russin ersetzt – meine Enttäuschung war riesig! Danach habe ich mich geweigert, für die ETTU-Einsätze zu leisten – mit dem Resultat, dass ich vom Kontinental-Verband für London erneut von der Liste gestrichen wurde.
2003 WTTC Werner Schlager vs Wang Liqin

Was ist der Schritt, um Schiedsrichter zu werden, kann jeder Schiedsrichter werden?

Eigentlich steht die Prüfung Allen offen; die einzige Bedingung ist die Mitgliedschaft in einem Club und das vollendete 18. Altersjahr. Natürlich wäre es gut, wenn ein Kandidat ein gewisses Interesse für unseren Sport und ein Minimum an Spielererfahrung mitbringen würde, doch dies zählt nicht zu den Bedingungen.

Oft ist es so, dass Kandidaten sich für die SR-Laufbahn entscheiden, um ihrem Club die Busse zu ersparen, was natürlich legitim ist. Auch diese SR sind für uns wichtig, selbst wenn sie dann meistens nur das Minimum an Pflichteinsätzen leisten. Unser Bestreben ist aber, Kandidaten zu finden, die mehr als nur die Interessen des Clubs vertreten und eine wirkliche SR-Laufbahn anstreben.

Um SR zu werden, muss sich ein Kandidat beim Regionalverband melden, eine Ausbildung (beim RV oder STT) absolvieren und an der theoretischen sowie der praktischen Prüfung teilnehmen und diese bestehen. Die Daten für die Ausbildung STT und die Prüfungen werden jeweils im Jahrbuch und auf der Homepage STT publiziert.

Ist es nicht langweilig, wenn man während des gesamten Spiels auf einem Stuhl sitzen muss und nicht an der Handlung teilhaben kann?

Die Arbeit eines SR ist keinesfalls langweilig, ganz im Gegenteil – lol! Ein SR sitzt immer in der ersten Reihe und kann das Spiel hautnah mitverfolgen. Vom SR wird volle Konzentration verlangt und erwartet, dass er/sie jederzeit bereit ist, ins Geschehen einzugreifen, wenn dies vonnöten ist. Natürlich könnte es als langweilig bezeichnet werden, wenn ein SR seine Aufgabe nur darin sieht, den jeweiligen Punktestand anzuzeigen – doch dem ist nicht so, denn von einem SR wird verlangt, regelfest zu sein und ein Spiel so zu leiten, dass Spieler, Zuschauer, Medien usw. das Spiel geniessen können.

Die SR-Laufbahn beinhaltet mehrere Stufen:

  1. Nationaler SR; Voraussetzungen, wie oben geschildert. Aktuell ist es so, dass aus dieser Position die zweite Stufe (international) direkt angestrebt werden kann. Vorausgesetzt, dass ein SR während drei Jahren überdurchschnittlich viele Einsätze leistet und bereit ist, nach bestandener Prüfung Einsätze im Ausland zu leisten. Die OSR-/SR-Kommission STT erarbeitet jedoch einen Plan, in Zukunft ein zusätzliches Niveau nationaler SR zu erschaffen (SR+), sozusagen als «Sprungbrett» zum internationalen Niveau. Es ist aber auch für motivierte SR gedacht, die ein besonderes Interesse am nationalen Status haben und gewillt/motiviert sind, bei uns Einsätze auf höchstem Niveau zu leisten – z.B. nationale Elite-Meisterschaften.
  2. Internationaler SR (White Badge); wie bereits erwähnt, werden überdurchschnittliche Einsätze verlangt. Ein Kandidat sollte auch an nationalen Elite-Meisterschaften teilgenommen haben, um sich zu qualifizieren. Er/sie muss von seinem RV vorgeschlagen werden, an der entsprechenden Ausbildung von STT teilnehmen und die Prüfung ITTF bestehen. Minimale Kenntnis der englischen Sprache ist erwünscht. Dieser Status erlaubt einem ISR an internationalen Veranstaltungen teilzunehmen.
  3. Internationaler SR Blue-Badge; Voraussetzung ist, dass ein ISR während Minimum zwei Jahren an mindestens zwei internationale Veranstaltungen teilgenommen hat. Die Prüfung (ARE – Advanced Rules Examination) findet an einem internationalen Turnier statt. Ausserdem wird verlangt, dass ein Kandidat an einer Zusatzausbildung (AUT – Advanced Umpires’ Training) teilnimmt und die Prüfung besteht. Die Prüfung besteht aus insgesamt 60 Fragen, wovon 45 in einer offiziellen Sprache ITTF (Französisch, Spanisch, Arabisch, Chinesisch usw.) vorliegen können – die übrigen 15 Fragen sind aber ausschliesslich in Englisch. Ein Kandidat muss beide Teile mit einem Ergebnis von mindestens 75% bestehen. Danach muss ein Kandidat den Evaluierungsprozess durchlaufen – vier gute Evaluierungen (Meets Expectation) an mindestens zwei internationalen Veranstaltungen – plus ein Interview in englischer Sprache absolvieren. Ausreichende Kenntnisse der englischen Sprache sind Voraussetzung. Dieser Status bewirkt, dass ein ISR für wichtigere internationale Veranstaltungen nominiert werden kann. Für den Erhalt des BB-Status muss ein ISR in drei Jahren mindestens drei gute Evaluierungen an mindestens 2 internationalen Veranstaltungen vorweisen können. Ein BB-ISR erhält auch etwas mehr finanzielle Entschädigung für seine Arbeit.
  4. Internationaler SR Gold-Badge; dieser Status steht als höchstes ISR-Niveau und wurde erst in diesem Jahr erschaffen. Voraussetzungen sind: überdurchschnittliche Leistungen an internationalen Veranstaltungen als Blue-Badge SR, bestehen der Prüfung ARE in ausschliesslich englischer Sprache, die alle drei Jahre zum Erhalt des Status wiederholt werden muss und zwei positive Beurteilungen (Assesments) des OSR-Teams an dafür vorgesehenen Veranstaltungen. Sehr gute Kenntnisse der englischen Sprache sind Voraussetzung. Der Gold-Badge SR kann an den wichtigsten Veranstaltungen ITTF (WM, Worldcup usw.) eingesetzt werden und erhält für seine Arbeit eine bessere finanzielle Entschädigung plus vergütete Reisespesen. Dieser Status ist als Halbprofessioneller Status ISR zu betrachten.

Wenn du die Vorteile/Nachteile, eine Schiedsrichterin zu sein, aufzählen müsstest, welche wären das?

Vor- und Nachteile gibt es viele – doch lass uns erst über die Vorteile sprechen:

  • Als grösster Vorteil kann bestimmt bezeichnet werden, dass sich ein SR umfassende Regelkenntnisse aneignet, womit er als Experte in Regelfragen bezeichnet werden kann. Im internationalen Vergleich sind die finanziellen Entschädigungen von STT für SR als sehr gut zu betrachten (siehe Finanzreglement STT), was grad für jüngere SR, denen ein finanzieller Zustupf ihr knappes Budget aufbessern könnte, ein Vorteil darstellen kann. Viele hochstehende Persönlichkeiten im nationalen und internationalen Bereich haben einen Hintergrund als Schiedsrichter, womit dieser Status auch als Sprungbrett in eine administrative / nicht-athletische Karriere in unserem Sport bezeichnet werden kann. Und nicht zuletzt, bietet das Amt des SR einen nicht zu unterschätzenden Zugang zu wichtigen Anlässen und spannenden Spielen.
  • Als gewichtigster Nachteil ist wohl zu erwähnen, dass ein SR einiges von seiner Freizeit «opfern» muss, um dabei bleiben zu können. Beim internationalen White-Badge ist es sogar so, dass die finanzielle Entschädigung ungenügend ist, und ein SR nach wie vor für seine Reisekosten selbst aufkommen muss. Was mir in den Gesprächen auch immer wieder als Nachteil gemeldet wird, ist, dass unseren SR zu wenig Respekt entgegengebracht, sprich: ihre Arbeit zu wenig geschätzt würde. Meine Antwort auf solche Kritik fällt dann meist so aus: um Respekt zu erhalten, muss dieser auch eingefordert werden – Respekt kommt nicht automatisch mit dem SR-Status! Wenn ein SR seine Aufgabe gut erfüllt und regelsichere Entscheidungen trifft, dann wird er auch entsprechend respektiert werden. Beschränkt sich ein SR hingegen auf die Aufgabe, den Spielstand richtig anzuzeigen, so wird sich dies auch auf den ihm zugesprochenen Respekt auswirken.

Es gibt bestimmt Leute, die diesen Artikel lesen und vielleicht inspiriert sind, Schiedsrichter zu werden, was würdest du diesen Leuten sagen? (Motivation, Tipps…)

Für mich ist unser Sport und meine Laufbahn als Offizielle zu einem sehr wichtigen Bestandteil meines Lebens geworden. Ich kann mir kaum vorstellen, wie mein Leben ohne diese Aufgaben, Herausforderungen und Erfahrungen verlaufen wäre. Sport ist eine Lebensschule und bringt uns weiter, auch in der Funktion eines SR! Doch Schule heisst auch lernen, und wer nicht gewillt ist zu lernen, wird es kaum schaffen, auf diesem Weg vorwärts zu kommen. Für mich ist Lernen schlicht der Sinn des Lebens und als SR hat man nie ausgelernt – es gibt den besten SR nicht, es gibt nur den SR, der ständig an sich arbeitet und bei jedem Einsatz etwas besser wird. Von einem SR werden ähnliche Fähigkeiten wie von einem TT-Spieler verlangt: höchste Konzentration, schnelle Reflexe und ein geschultes Auge auf den kleinen Ball und die Geschehnisse im Spiel. Dies alles kann erlernt werden, bedingt aber ein ständiges Training – mit minimalen Jahreseinsätzen kann dies nicht erreicht werden. Nietzsche sagte mal: nicht weil die Dinge schwierig sind tun wir sie nicht, sondern weil wir sie nicht tun, sind die Dinge schwierig! Dieser Grundsatz begleitet mich seit sehr vielen Jahren, und ich teile ihn oft mit den Kandidaten, die ich unterrichte.  Um wirklich erfolgreich zu werden, braucht es auch eine grosse Portion «Herzblut» für unseren Sport, denn ohne eine gewisse Passion können die oben beschriebenen Nachteile kaum überwunden werden.

Wenn sich ein SR all diesen Herausforderungen stellen will und eine nationale/internationale Karriere anstrebt, dann garantiere ich, dass spannende Erfahrungen folgen und viele Türen geöffnet werden. Seit vielen Jahren bemühe ich mich, junge (und auch etwas ältere) Menschen für die Aufgaben als SR zu begeistern und durfte in jüngerer Vergangenheit mit Freude feststellen, dass meine Bestrebungen nun anfangen, Früchte zu tragen. Die Schweiz wird nun wieder vermehrt von motivierten SR an vielen internationalen Veranstaltungen vertreten und geschätzt. Meine internationalen Fussstapfen sind zwar gross, doch sie sind da, damit meine Nachfolger sie zu ihrem eigenen Vorwärtskommen nutzen werden. Ich bedanke mich bei all denen, die in den letzten Jahren viel ins SR-Wesen investiert haben und gewillt sind, dies auch weiterhin zu tun, und solange meine Kräfte es erlauben werden, will ich dazu beitragen, diesen Menschen zur Seite zu stehen!

Ich bedanke mich bei unserem Sport, der mir über fast ein halbes Jahrhundert Gelegenheit geboten hat, meine Fähigkeiten zu verbessern und viele spannende Erlebnisse, Reisen und Begegnungen zu erfahren. Ich bedanke mich ebenfalls bei unserem Verband, der mich auf dieser «Reise» stets begleitet, an mich geglaubt und mich mit den zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützt hat!